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Das Bundesjustizministerium hat mit dem „Entwurf eines Gesetzes zur Einführung eines Leitentscheidungsverfahrens beim Bundesgerichtshof“ vom 14. Juni 2023 (im Weiteren „Entwurf“) einen neuen „Baustein für eine effiziente Erledigung von Massenverfahren“ vorgestellt. Bei solchen Verfahren handelt es sich um massenhafte Einzelklagen zur gerichtlichen Geltendmachung gleichgelagerter Ansprüche (z.B. im Diesel-Komplex oder wegen unzulässigen Klauseln in Fitnessstudio-, Versicherungs- oder Bankverträgen). Der hiermit verbundenen Belastung der Instanzgerichte soll dadurch begegnet werden, dass dem Bundesgerichtshof im Rahmen von Revisionsverfahren die Möglichkeit verschafft wird, über Rechtsfragen eines Massenverfahrens auch dann zu befinden, wenn die Parteien das Revisionsverfahren vor der eigentlichen Entscheidung des Bundesgerichtshofs beenden.

I. Das Leitentscheidungsverfahren vor dem Bundesgerichtshof

Gemäß § 565 ZPO n.F. wird der Bundesgerichtshof ermächtigt, aus anhängigen Revisionen aus dem Kreis eines Massenverfahrens ein oder mehrere Verfahren auszuwählen, denen er besondere Relevanz für die Entscheidungen der Instanzgerichte beimisst. Durch einen zu begründenden Beschluss kann der Bundesgerichtshof ein solches Verfahren zum Leitentscheidungsverfahren erheben. Wird das Verfahren von den Parteien bis zum Schluss betrieben, ändert diese Qualifizierung nichts am eigentlichen Revisionsverfahren. Wenn die Revision allerdings zurückgenommen wird oder erledigt sich das Revisionsverfahren auf andere Weise als durch Urteil nach §§ 561 ff. ZPO – etwa durch einen aus prozesstaktischen Gründen geschlossenen Vergleich – kann der Bundesgerichtshof über diejenigen Rechtsfragen befinden, die er zuvor durch Beschluss als entscheidungserheblich für die instanzgerichtlichen Entscheidungen eingeordnet hat, und diesen Beschluss veröffentlichen.

Dies erinnert deutlich an eine prozessuale Sondersituation aus dem Jahr 2019, in welcher der Bundesgerichtshofs erstmals zum Diesel-Komplex Stellung nahm. Das zugrunde liegende Revisionsverfahren hatten die Parteien kurz vor Urteilsverkündung vergleichsweise beendet und damit der Entscheidungsgewalt des Bundesgerichtshof entzogen. Dieser veröffentlichte daraufhin einen Hinweisbeschluss (BGH, Beschluss vom 8. Januar 2019, Az. VIII ZR 225/17) und befasste sich so erstmals mit Rechtsfragen des Diesel-Komplexes.

II.  Aussetzung der Individualverfahren nur fakultativ

Für bereits rechtshängige Individualverfahren aus dem Kreis eines Massenverfahrens eröffnet § 148 Abs. 4 ZPO n.F. Gerichten die Möglichkeit, diese Verfahren bis zur Entscheidung des korrespondierenden Leitentscheidungsverfahrens auszusetzen. Hierzu bedarf es jedoch der Zustimmung der Parteien. Die Aussetzung kann so lange gewährt werden, bis das Leitentscheidungsverfahren durch ordentliches Revisionsurteil oder bei anderweitiger Erledigung durch Beschluss beendet wurde.

III.  Keine Bindungswirkung der Leitentscheidung

Der Entwurf sieht ausdrücklich vor, dass das Leitentscheidungsverfahren keine formale Bindungswirkung entfaltet. Weder für das ursprüngliche Revisionsverfahren, das im Zeitpunkt des Erlasses des Leitentscheidungsbeschlusses bereits beendet ist, noch für die übrigen Verfahren, die zum Kreis des Massenverfahrens gehören. Laut der Entwurfsbegründung soll die Leitentscheidung nur als „Richtschnur und Orientierung“ für die Instanzgerichte dienen, wie mit den häufig anzutreffenden Rechtsfragen innerhalb des Massenverfahrens umzugehen ist.

IV.  Bewertung

Wesentliches Ziel des Gesetzentwurfs ist die Entlastung der Instanzgerichte durch eine frühere höchstrichterliche Entscheidung. Es erscheint allerdings fraglich, ob das vom Gesetzgeber vorgesehene Leitentscheidungsverfahren in seiner jetzigen Ausprägung zu einer schnelleren Erledigung von Massenverfahren beitragen kann.

Der Bundesgerichtshof wird nach dem aktuellen Entwurf nur auf der Grundlage ihm vorgelegter Revisionen über Rechtsfragen von Massenverfahren befinden können. In der Konsequenz muss der zivilrechtliche Instanzenzug durchschritten werden, bevor der Bundesgerichtshof ein Verfahren aus dem Kreis eines Massenverfahrens zu einem Leitentscheidungsverfahren erheben und entscheiden kann. Im Hinblick darauf, dass der Instanzenzug selbst bei Massenverfahren häufig erst nach mehr als drei Jahren durchschritten ist, dürften sich die Instanzgerichte bis zur Entscheidung eines Leitentscheidungsverfahrens weiterhin starker Belastung ausgesetzt sehen. Dies dürfte umso mehr gelten, als es nach wie vor möglich ist, höchstrichterliche Entscheidungen durch verfahrensbeende Maßnahmen (z.B. durch einen aus prozesstaktischen Gründen abgeschlossenen Vergleich) zu verhindern. Im Übrigen dürfte die mit § 148 Abs. 4 n.F. ZPO vorgesehene Möglichkeit, rechtshängige Verfahren bis zur Entscheidung des sie betreffenden Leitentscheidungsverfahren auszusetzen, kaum zur Entlastung der Instanzgerichte beitragen können. Dies beruht darauf, dass die Aussetzung der rechtshängigen Verfahren aus dem Kreis der Massenverfahren nur mit Zustimmung der Parteien zulässig sein soll.

Der Gesetzesentwurf reiht sich in diverse Vorschläge darüber ein, wie der drohende Überlastung der Instanzgerichte durch Massenverfahren begegnet werden soll (Entschließung des Bundesrates „Maßnahmen zur Bewältigung zivilgerichtlicher Massenverfahren und zur Sicherung der Funktionsfähigkeit der Justiz“, Bundesrat-Drucksache: 342/22; Antrag der Fraktion der CDU/CSU „Kollaps der Ziviljustiz verhindern – Wirksame Regelung zur Bewältigung von Massenverfahren schaffen“, Bundestags-Drucksache 20/5560; Deutscher Richterbund „Vorschläge zur besseren Bewältigung von Massenverfahren durch die Justiz“). Das Leitungsentscheidungsverfahren bleibt allerdings in seiner jetzigen Form hinter den meisten dieser Vorschläge zurück. Diese plädieren überwiegend für die Einführung eines speziellen Vorlageverfahrens vor, das es bereits den Instanzgerichten ermöglichen soll, dem Bundesgerichtshof Verfahren aus dem Kreis eines Massenverfahrens für eine Entscheidung der relevanten Rechtsfragen vorzulegen. Vor diesem Hintergrund bleibt abzuwarten, ob der Entwurf tatsächlich in seiner jetzigen Form angenommen wird.

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